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Spektrum-e:
Dr. Kullmann, sprechen wir heute über CMD. Wofür steht diese Abkürzung?

Dr. Kullmann:
Die Abkürzung steht für Craniomandibuläre Dysfunktion und umfasst generell erst einmal alle Schmerzsymptomatiken (Dysfunktionen) im Bereich des Schädel, dem Cranium, und dem Unterkiefer, der Mandibula. CMD ist also erst einmal nichts anderes als ein großes weißes Blatt, denn es handelt sich hier nicht um eine spezifische Diagnose.

Landläufig sind hier alle Formen von Kiefergelenkserkrankungen gepoolt, was aber zu kurz zielt. Die Abkürzung CMD ist unvollständig und gehört eigentlich erweitert, um die orofazialen Schmerzsymptomatiken mit abzubilden.

Spektrum-e:
Wie äußern sich die Schmerzen, bzw. was sind die Symptome?

Dr. Kullmann:
Das geht von Kiefergelenksschmerzen mit oder ohne Gelenksgeräusche in Verbindung mit zum Teil massiven Bewegungseinschränkungen und/oder Schmerzen bei Funktion (also Kauen) , über ein- oder beidseitige Kopfschmerzen und Nackenschmerzen. Es können Taubheitsgefühle im Gesicht auftreten. Die Schmerqualitäten können variieren zwischen stechend, dumpf, pulsierend und brennend. Die Schmerzfrequenzen variieren von manchmal bis dauernd und die Intensität des Schmerzes kann die Lebensqualität mitunter ruinieren.

Spektrum-e:
Sind wir denn an diesem Punkt auf rein zahnmedizinischen Terrain, oder gibt es da nicht Überschneidungen mit anderen Fachdisziplinen, etwa der Neurologie?

Dr. Kullmann:
Selbstverständlich ist dieses Gebiet ein Interdisziplinäres bzw. Multidisziplinäres.

Spektrum-e:
Das müssen Sie erläutern.

Dr. Kullmann:
“Interdisziplinär”, weil es bei komplexeren Fragestellungen notwendig werden kann, im Laufe des diagnostischen Prozesses zum Beispiel Radiologen Neurologen u. a. hinzuzuziehen.
“Multidisziplinär”, weil beim therapeutischen Ansatz oft ein Team zum Einsatz kommen muss. Das gilt vor allen Dingen bei chronischen Schmerzsymtomatiken, wo neben dem, was die Zahnmedizin leisten kann, noch Physiotherapeuten, Schmerztherapeuten und Verhaltensmediziner gebraucht werden.

Spektrum-e:
Das hört sich herausfordernd an. Wie kamen Sie zu der Expertise in diesem Feld? Was ist ihr Hintergrund?

Dr. Kullmann:
Ich hatte von 1989 bis 1992, zu einem Zeitpunkt, wo in Deutschland das Thema Behandlung von “Kiefergelenkserkrankungen” ein eher stiefmütterliches Dasein fristete, in den USA, an der University of Minnesota in Minneapolis ein Graduate Program in “TMD and Orofacial Pain” an der School of Diagnostic and Surgical Sciences unter Fricton, Schiffman, Anderson und Schulte absolviert. Ein solches Graduate Program war zu dieser Zeit sogar für die USA ein ziemliches Novum.

Spektrum-e:
Sie sagten gerade “TMD”. Was ist der Unterschied zu “CMD”?

Dr. Kullmann:
Das “T” steht für “Temporo”. TMD stand zunächst für Temporo- Mandibuläre Dysfunktion, war also ganz klar auf den Bereich des Kiefergelenks beschränkt. Im Laufe der Entwicklung und den wissenschaftlichen Fortschritten geschuldet, wurde es unausweichlich eine begriffliche Erweiterung vorzunehmen.

Spektrum-e:
Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie aus diesem Graduierten Programm mitnehmen konnten?

Dr Kullmann:
Nun, da gibt es einige Dinge, die ich dort lernen durfte. Dem Patienten zuhören und das so genannte zwischen-den-Zeilen- lesen bei der Aufnahme einer komplexen Anamnese wäre da zu nennen, aber auch das (Zahn-)Medizin mit Emphatie ausgeübt werden kann, und man seine eigenen Grenzen kennen muss, respektive sollte.

Spektrum-e:
Können Sie etwas zu den eben von Ihnen genannten “eigenen Grenzen” sagen? Was meinen Sie damit?

Dr. Kullmann:

Im Bereich CMD gibt es nicht selten Fälle, wo Patienten seit mehreren Monaten in einer Schmerzsituation leben. Schmerzen, die einen Zeitrahmen von sechs Monaten überschreiten, können per Definition als “chronisch” bezeichnet werden.

Chronische Schmerzen können eine Eigendynamik entwickeln durch viele bahnende Effekte die zu den ursprünglichen Syptomen gar nicht mehr passen. Metaphorisch kann man an dieser Stelle vielleicht die Folter mit dem Wassertropfen nennen, wo dem arretierten Opfer ununterbrochen und in regelmäßiger Frequenz ein Tropfen Wasser, immer auf die gleiche Stelle, auf die Schädelspitze fällt. Nach ein paar Tagen wird da nicht mehr ein leichter Wassertropfen verspürt, sondern ein Felssturz…

Das ist die ein wichtiger Fakt. Fast wichtiger als das ist aber auch, dass einige Schmerzsymptome im Kiefer-Gesichtsbereich sich stark ähneln, und man nicht gleich mit einer Diagnose”X” daherkommen kann, weil in den allermeisten Fällen diese Diagnose “X” die Richtige ist. Da läuft man schnell Gefahr ganz wichtige Zeit zu verlieren, wenn man z. B. ein myofaziales Schmerzsyndrom antizipiert, in Wirklichkeit aber ein extra- oder intrakranieller raumgreifender Prozess am Laufen ist.

In beiden Situationen sollte man den Herrgott in Weiss zuhause lassen und sein diagnostisches und therapeutisches Tun stets hinterfragen und ein stringentes ausschlussdiagnostisches Verfahren für jeden Fall implementieren, wo an erster Stelle der Ausschluss extra- bzw. intakranieller Neoplasien steht, gefolgt vom Ausschluss echter Neuropathien und vaskulaerer Erkrankungen. Erst dann kann man sich sicher im Bereich einer arthrogenen oder myogenen Diagnostik bewegen.

Spektrum-e:
“Safety first” im diagnostischen Bereich.
Wie sieht es jetzt mit dem Thema Therapie aus? Welche Konzepte verfolgt man hier?

Dr. Kullmann:
Klassischerweise die Therapie mit einer Aufbissschiene, die darauf abzielt Gelenks- und muskuläre Strukturen zu entlasten, in Verbindung mit Physiotherapie zur Mobilisierung dieser Strukturen und die verhaltensmedizinische Intervention, um kontraproduktive Verhaltensweisen unter Kontrolle zu bekommen. Das lässt sich in aller Regel bei geringerer Komplexität ganz gut vom Zahnarzt bewältigen. Wichtig hierbei ist, dass alle diese Massnahmen reversibel sind. Falls nichts helfen wuerde, gab es am (Kau) -System keine Veränderung. Aufbissschienen wirken rein passiv. Es werden dadurch keine Zähne bewegt.

Irreversible Maßnahmen an Zähnen auszuführen, ohne die Notwendigkeit derselben vorher durch reversible Maßnahmen verifiziert zu haben, halte nicht nur ich für einen Kunstfehler.
Darüber hinaus können auch verschiedene Medikamente zum Einsatz kommen, hauptsächlich NAIDS, wie Ibuprofen, Voltaren&Co.

Bei intrakapsulären Entzündungen können Gelenksspülungen (Lavagen) durchgeführt werden, damit die in der Gelenksflüssigkeit enthaltenen Entzündungsmediatoren – die an den in der Kapselinnenseite gelegenen Rezeptoren eine Schmerzreaktion auslösen – herausgewaschen werden. Danach ist umgehend Physiotherapie zu implementieren.

Neu ist die peri-artikuläre Injektion mit PRGF, ein Eigenblutpräparat, in dem der ganze körpereigene Wundheilungs-Cocktail konzentriert vorliegt. Damit versucht man in dem eher schlecht durchbluteten Gelenksbereich Heilungsprozesse zu initiieren. Für das Kiefergelenk ist die Datenlage noch spärlich. Im Bereich der Orthopädie sind aber klinisch relevante Effekte zu verzeichnen.

Spektrum-e:
Zu guter Letzt die Frage inwieweit man einen Tinnitus mit der von Ihnen beschriebenen klassischen Trias, nämlich Aufbissschienentherapie, Physiotherapie und Verhaltensmodifikation, erfolgreich behandeln kann?

Dr. Kullmann:
Tinnitus hat so viele verschiedene mögliche Ursachen, dass eine erfolgreiche Therapie im Rahmen dieser klassischen Trias eher anekdotisch und im besten Fall ein Zufallsergebnis ist als alles andere.

Spektrum-e:
Danke für diese klaren Worte und danke für das Interview.